Zurück zur Indexseite

 

Cornelia Kenke, Pfarrerin

 

Lässt sich die Wahrheit erkennen? – Die Theologin

 

Ein Gespräch zwischen Naturwissenschaft und Glaube

 

 

Es ist unglaublich faszinierend, dass es dem Menschen mehr und mehr gelingt, hinter die Geheimnisse der Welt zu komme, in der wir leben. Und wir können uns auch als naturwissenschaftliche Laien gut vorstellen, was für Glücksmomente es sein müssen, etwas zu entdecken, was noch kein Mensch vorher entdeckt hat. Diese spannende Wahrheitssuche wird aller Voraussicht nach wohl niemals an ein endgültiges Ende kommen. Wir haben in dem Vorausgegangenen nachvollziehen können, warum das wohl so ist.

 

`Die Wahrheit ist der zur Zeit akzeptierteste Irrtum´, so könnte man vielleicht den ersten Vortragsteil ganz salopp zusammenfassen. Als Überleitung zum zweiten Teil dieses Vortrages passt ein Zitat von Friedrich Dürrenmatt: "Der Wissende weiß, dass er glauben muss.“ Jeder neugierige Forscher wird nämlich bei seiner Suche auf eine Frage stoßen, die er  mit den Mitteln der Naturwissenschaft nicht weiterverfolgen kann. Er wird auf  die Frage stoßen, ob und was sich hinter dieser zu erforschenden Welt verbirgt.

 

In der Sprache der Religion nennen wir die Welt, in der wir leben, die irdische Welt. Religion ist die Suche nach der Wahrheit jenseits der irdischen Welt. Wo immer wir auf früheste Spuren menschlicher Kultur stoßen, zeigt sich, dass der Mensch schon seit Urzeiten die Frage nach der Wahrheit jenseits dieser Welt gestellt hat. Lange Zeit hat ihn diese Frage sogar sehr viel mehr beschäftigt als der Wunsch, die Zusammenhänge dieser Welt zu ergründen.

 

Die religiöse Wahrheitssuche ist dabei oftmals an der Wirklichkeit unserer irdischen Welt völlig vorbeigegangen. Diese Welt war nur das notwendige Übel beim Durchgang in eine bessere Welt. So entwickelten sich in den Religionen Rituale, um dieser Welt so schnell wie möglich zu entfliehen. Die irdische Welt hatte keinen Wert in sich, keine bewundernswerte Schönheit, die zu entdecken sich gelohnt hätte. Sie war nur ein Durchgang in die eigentliche Welt, das eigentliche Leben.

 

Auch das Christentum hat im Laufe seiner Geschichte solch weltverneinende Züge angenommen. Im frühen Mittelalter wurden Klöster zu Orten, in denen asketische Praktiken oftmals zu einem gewaltsamen frühen Tod führten. Und die Kirche hat nicht selten solch selbstmörderische ´Märtyrer` und ´Märtyrerinnen` heilig gesprochen. Aber vom Ursprung her ist das Judenchristentum eine welt- und lebensbejahende Religion.  Diese irdische Welt ist ja das wunderbare Werk Jahwes, des Schöpfers Himmels und der Erden. Unermüdlich wird diese herrliche Schöpfung in der Bibel gelobt und gepriesen. Darum müssten Christen sich begeistern lassen für die Ergebnisse der Grundlagenforschung, die ja die verborgendsten Schönheiten dieser Welt sichtbar macht. Der Wunsch, hinter die Geheimnisse unserer Lebenswelt zu kommen, dürfte gläubige Christen und wissenshungrige Forscher  mit der gleichen Leidenschaft erfüllen.

Nur, dass der Naturwissenschaftler der  Profi ist, und der Christ ein Laie ist, falls er nicht gleichzeitig  Naturwissenschaftler ist.

 

„Wir werden wohl nie die gesamte Wahrheit erfahren“, haben wir als bescheidene Selbstbegrenzung der naturwissenschaftlichen Forschung gehört. Wie steht es dann aber mit der Wahrheitssuche, die sich auf eine außerirdische, transzendente Wahrheit bezieht. Muss sie genauso bescheiden sein?

 

Es gibt Religionen, deren Gründer einen direkten Blick in die göttliche Wirklichkeit getan haben wollen, und ihre Anhänger glauben, die einzige und ganze Wahrheit in Händen zu halten. Mit dieser Art von Religion wird eine Wissenschaft, die ihrerseits keinen Wahrheitsanspruch postulieren kann und will, nicht gemeinsam auf  die Wahrheitssuche gehen können. Sie werden sich tatsächlich nur gegenseitig behindern.

 

Man sagt zwar, dass auch das Christentum zu den Offenbarungsreligionen gehört, aber wenn  man genau hinschaut, beruft sich der christliche Glaube nicht auf einen Religionsstifter, der den Anspruch erhoben hat, als Einziger die einzige Wahrheit über Gott zu wissen. Weder Christus noch Paulus haben sich dessen gerühmt, eine exklusive, unverfälschte göttliche Wahrheit weitergeben zu können. Paulus erteilt in 1. Korinther 13 allen eine deutliche Absage, die glauben, dass sie jetzt schon das Göttliche von Angesicht zu Angesicht erkennen können: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Wort. Dann aber von Angesicht zu Angesicht.“

 

Der Glaube muss sich, nicht anders als die Naturwissenschaft, menschlicher Fähigkeiten bedienen und findet seine Begrenzung in den menschlichen Fähigkeiten. So lässt sich über den christlichen Glauben definitiv sagen: „Wir werden die ganze Wahrheit nie in Händen halten!“ Diese Aussage über den christlichen Glauben setzt eine historisch-kritische Bewertung der biblischen Tradition voraus.

 

Das Johannes-Evangelium legt Jesus einen Satz in den Mund, der oft ins Feld geführt wird, wenn das Christentum als die alleinige religiöse Wahrheit postuliert wird: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater, denn durch mich.“ (Johannes 14, 6). Eine historisch-kritische Betrachtung dieses Satzes zeigt jedoch, dass der historische Jesus diese Worte so nicht ausgesprochen hat. Sie sind uns bei Johannes in der griechischen Sprache überliefert. Jesus aber sprach aramäisch, einem hebräischen Dialekt. Ehe dieser Satz schriftlich überliefert wurde, muss er also zumindest vorher mündlich in eine andere Sprache übersetzt worden sein. Der Versuch, den Satz „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater, denn durch mich“ aus dem Griechischen ins Aramäische zurück zu übersetzen, stellt uns vor ein sprachwissenschaftliches Problem. Der Satz ist nämlich nicht nur in griechischer Sprache verfasst, er ist auch in der griechischen Philosophie beheimatet. Der hebräischen Denkweise ist er völlig fremd. Auch die drei anderen Evangelien sind in der griechischen Sprache verfasst. So müssen wir feststellen, dass wir Christen leider keine schriftlichen Überlieferungen in der Muttersprache Jesu haben.

 

Der Glaube an Jesus Christus ist uns ausschließlich in den Glaubenszeugnissen der ersten Christen überliefert. Und die waren Menschen, die in menschlichen Worten und innerhalb der Grenzen menschlicher Möglichkeiten von ihrem Glauben erzählt haben. Die eine und einzige göttliche Wahrheit haben wir Christen also nicht in Händen, sondern nur viele und verschiedene wunderschöne Glaubenszeugnisse an einen Gott, den Jesus 'Vater' genannt hat. Die Wahrheit selbst werden wir hier im Irdischen also nie in Händen halten. Wir Christen leben in der Wirklichkeit dieser Welt mit der Gewissheit, dass wir einst die Wahrheit von Angesicht zu Angesicht sehen werden.

 

So gesehen dürfte sich der christliche Glaube und naturwissenschaftliche Erkenntnis nicht im Wege stehen. Sie müssten sich voller Staunen aneinander erfreuen. Sie müssten sich gegenseitig begeistern lassen, was sich auf der Suche nach der Wahrheit alles für wunderbare Erkenntnisse und Erfahrungen erschließen lassen. Sie müssten sich mit ihren ganz verschiedenen Methoden und menschlichen Begabungen optimal ergänzen. Immer in der gemeinsamen Erkenntnis, dass die Methoden und Begabungen, so verschieden sie auch in Religion und Naturwissenschaft sein mögen, dass sie immer nur von dieser Welt sind.

 

Ein aufgeklärter Christ glaubt daran, dass alle menschlichen Fähigkeiten, die es uns ermöglichen unsere Welt zu erforschen, eine Schöpfungsgabe Gottes sind. Und ebenso ist die Fähigkeit des Menschen nach Gott zu fragen eine Schöpfungsgabe Gottes. Und auch die Fähigkeit religiöse Gewissheiten zu erlangen ist eine Schöpfungsgabe Gottes. Und keine dieser wunderbaren Schöpfungsgaben ist der anderen vor- oder nachzuordnen. - So sollte es sein.

 

Die Realität sieht aber leider ganz anders aus. Das Christentum ist in der Moderne zu einem riesengroßen Geschäft geworden. Christliche Fundamentalisten sind dabei, Nordamerika, Lateinamerika und Osteuropa zu erobern. Sogenannte Pfingstgemeinden beeindrucken vor allem die Ärmsten der Armen. Fundamentalistische Christen haben ihre Machtzentren in den USA, ganz in der Nähe der politischen Macht, mehr und mehr ausgebaut.

 

Der US-Soziologe Michael Lindsay beschreibt in seinem Buch „Glaube in den Fluren der Macht“, dass der Evangelikalismus, der großen Einfluss auf den derzeitigen amerikanischen Präsidenten hat, längst keine Minderheit mehr ist. Er ist bestens organisiert. Es gibt inzwischen mehrere streng-religiöse Elite-Universitäten, deren Absolventen vorzüglich in den Dienst der Regierungs-Administration genommen werden. An diesen Hochschulen müssen bindende Glaubensbekenntnisse unterschrieben werden, demzufolge man Jesus bei seiner Auferstehung und Himmelfahrt hätte fotografieren können, und die Hölle ein Ort ist, an dem Ungläubige in diesem Sinne zu ewigen Qualen verdammt sind. Die europäische Theologie als aufgeklärte Geisteswissenschaft spielt hier keine Rolle mehr. Es ist, als hätte es sie nie gegeben. Also müssen wir feststellen, dass eine christliche Religiosität im Vormarsch ist, die weit hinter die Aufklärung zurückfällt.

 

So wie es den Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Technik gibt, so gibt es in etwa vergleichbar den Unterschied zwischen Theologie und kirchlicher Praxis. Die aufgeklärte Theologie hat ihre eigenen Methoden entwickelt, die im Rahmen der Geisteswissenschaft bestimmte vergleichbare Standards einzuhalten hat. Sie bedient sich einer besonderen Wissenschaftssprache, die ein Laie nur schwer versteht, die aber intern nachvollziehbar und vergleichbar ist. Der Transfer zwischen den Forschungsergebnissen der aufgeklärten Theologie und der praktischen Religionsausübung ist vielleicht ähnlich schwerfällig und fehleranfällig wie der Transfer zwischen den Ergebnissen der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung und der Umsetzung in Rechenmodellen und Technik.

 

Je mehr die Technik als auch die Religion wirtschaftlichen Interessen folgt, umso größer ist die Gefahr, der Hybris zu erliegen, alles zu wissen und eine Antwort auf jedes Problem zu haben. Die Technik gaukelt den Menschen nur allzu gerne vor, sie würde alle naturwissenschaftlichen Fragen von morgen einst beantworten können und damit alle Probleme der Zukunft lösen können. Allzu oft beteiligen sich daran auch sich dem Zeitgeist anbiedernde Grundlagenforscher.

 

Und die religiösen Machtsysteme, die hinter die Aufklärung zurückfallen, gaukeln den Menschen vor, sie wüssten, was jenseits dieser Welt auf sie wartet, und sie leiten davon ab, was der einzig gangbare Weg durch dieses Leben ist. Hinter beiden Selbstüberheblichkeiten stehen massive Machtinteressen. Religiöse Machtsysteme können sich keine Freiheit des Geistes leisten. Darum fallen sie hinter die Aufklärung zurück, und darum stehen sie auch in Widerspruch zu den Ergebnissen der naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse.

 

Da sie aber mit dem christlichen Glauben, so wie ich ihn hier verstehen will, rein gar nichts zu tun haben, lohnt es sich eigentlich gar nicht, damit in die Auseinandersetzungen zu gehen. Der aufgeklärte Christ weiß, dass ein glaubender Mensch sich nur der gleichen verstandesmäßigen Fähigkeiten des Menschen bedienen kann wie der Naturwissenschaftler, wenn er sich den irdischen Wahrheiten nähern will. Und was die überirdischen Wahrheiten angeht, so hat der Glaubende kein spezielles Wissen, er hat auch keine besonderen geistigen Fähigkeiten, die über die Vernunft hinausgehen.

 

Jeder Mensch hat aber die Fähigkeit zu hoffen und zu glauben. Christlicher Glaube ist kein Wissen, sondern er ist die Gewissheit, dass wir in eine göttliche Wahrheit eingebettet sind. Dieser Glaube entzieht sich allen Machtansprüchen. Er ist eine freie, unvergleichbare Lebensäußerung eines jeden Menschen. Das war die Botschaft Jesu! Christlicher Glaube ist darum kein für wahr halten irgendwelcher irdischer oder überirdischer Wahrheiten.

 

Deshalb können wir uns auch nur von unseren Glaubenserfahrungen erzählen, und uns vielleicht Verstehenshilfen geben und durch unser Beispiel überzeugend wirken. So wie Jesus immer nur von seinen Glaubenserfahrungen erzählt hat. Er hat von Gott nur in Bildern gesprochen, die ihre Gültigkeit immer nur in der jeweiligen konkreten Situation hatten. Darum wollte Jesus auch keine neue Religionsgemeinschaft gründen; er wusste, dass jeder seinen ganz eigenen Weg zu Gott finden muss.

 

Lässt sich die Wahrheit erkennen? Nein, antwortet der aufgeklärte wahrhaftig bleibende christliche Glauben. Und damit ist der Weg frei, dass sich Naturwissenschaft und Glaube mit ihren verschiedenen Wegen der Wahrheitssuche gegenseitig begeistern können.

 

Zurück zur Indexseite